1985
Galerie 410, Frankfurt am Main

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Frankfurter Rundschau

Donnerstag, 28. November 1985

Sanftes Rauschen der Töne

Aquarelle von Willi Van der Stel in der "Galerie 410"

ESCHERSHEIM. Die Einheit von Stoff und Geist, die Goethe mit seiner "Farbenlehre" nachweisen wollte, versucht der Schweizer Maler Willi Van der Stel nun mit seinen Aquarellen zu versinnbildlichen. Diese wundersam-harmonischen Versuch(e)ungen sind gegenwärtig in der "Galerie 410" (Eschersheimer Landstrasse 410) ausgestellt.

Von Goethes Theorie zudem inspiriert, wonach jede sinnliche Erscheinung auf dieser Erde in einem geistigen Urphänomen wurzelt, das in den "trüben" Zwischenbereichen der Farben vom Dichter dann veranschaulicht wurde, mischt auch Van der Stel schichtweise die Schattierungen bis zur Dunkelzone. Hier wird sozusagen im trüben gefischt und auf das reine Gespür sich verlassen. Und wirklich: Hat der Verstand nur noch halbe Macht, und sind die empfindsamen Sinne (denn man glaubt manchmal auch Klänge zu hören) in die Aquarellierungen hineingetaucht, beginnt sogleich die faszinierende Reise in ein farbiges Urreich.

Grenzübergänge zwischen den Farben gibt es hier nicht, und so gleitet man im sanften Rauschen der Töne über ein schwellenloses Gewoge hinweg, das oftmals an die feenhaften Verwirrungen des Augenspiels im Kaleidoskop erinnert. Mal bricht durch trübe Schimmer gleissendes Licht hervor und entfaltet blitzartig eine schwindelerregende Raumtiefe, mal ziehen in nahtlosen Staffelungen mehrere Farbschichten über einen solchen hellen Schacht sich unmerklich wieder zusammen.

Selten nur gönnt der Maler Van der Stel dem selbstvergessenen Besucher während dessen stufenweiser oder auch wirbelnder Versenkung eine kleine Rückerinnerung an die vertraute Merkwelt. Und dieses Vorbeischwirren an Bekanntem im farbigen Chaos, und wenn es nur das Phantasiegebilde eines Drachen ist, der aus der Ferne winkt und flugs wieder verschwindet, gewährt eine leichte Orientierung und damit heilsame Sicherheit. Denn versetzt man sich vor Van der Stels malerischen Erkundungen nach dem stofflich-geistigen Urphänomen in eine ungestörte Komtemplation; rauscht durch Farbnebel an noch nie gesehenen Figuren entlang, schwangt über emporlodernde Flammen hinweg oder erklimmt, einmal hinabgebraust in gleissende Schlünde, duselig wieder auf die sanfte Hochebene warmer dunkelblauer Tonschichten - dann ist man dankbar in diesen wogenden Wallungen für jede leichte Stütze vertraulicher Zeichen Hierzu genügen, breiten sich unversehens bizarre Farbsphären aus, in deren Zwischenzonen phantastische Melodien aufklingen, solche und ähnliche Beruhigungen, die den Augenwirbel entlasten. Es geht ja, wie gesagt, um die Einheit von Sinnlichkeit und Verstand und nicht um irgendeine Einseitigkeit - denn diese rächt sich immer wieder.

"Das Denken übt bei mir, wenn ich male, eine Hilfsfunktion aus, es soll nicht die Regie übernehmen", sagt Willi Van der Stel, der in seiner künstlerischen Gestaltung darum bemüht ist, "dass jede Farbe sich gemäss ihrer eigenen Dynamik entfalten kann."

Der Schweizer Künstler wurde 1951 in Bern geboren, begann in den 70er Jahren als Lyriker und Maler zu arbeiten und siedelte 1984 mit seiner Frau und seiner Tochter nach Frankfurt über.

Seine Bilder in der "Galerie 410" (Eschersheimer Landstrasse 410) sind noch bis zum 6. Dezember zu sehen. Öffnungszeiten: dienstags, donnerstags und freitags von 15 bis 18.30 Uhr, samstags von 9 bis 12 Uhr sowie nach telefonischer Vereinbarung (Telefon 51 11 80)

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